Donnerstag, 18. Juni 2015

Hey, Wiener Neustädter und Wiener Neustädterinnen!

Ich weiß, viele von euch haben Angst. Da sollen plötzlich 400 Menschen, die kaum Deutsch können und teilweise nichts mehr haben als das, was sie am Körper tragen, in die unmittelbare Nachbarschaft einziehen? In ein Notquartier, eine Halle, ein "Massen"lager? Klingt ganz schön unangenehm erst mal. Man liest ja auch genug in der Zeitung, von der Forderung nach WLAN (das ist erfunden), oder dass die Flüchtlinge sich übers Essen beschwert haben (auch das stimmt nicht, der ORF hats recherchiert).

Sofort ging auf Facebook eine Diskussion los, die ich nicht im Detail wieder geben möchte. Da war die Rede davon, Flüchtlingen Tieren zum Fraß vorzuwerfen. Dass kein Kind mehr in Neustadt einen sicheren Schulweg hat, Frauen abends nicht mehr allein auf die Straße können ohne vergewaltigt zu werden.

Das klingt gar nicht so leiwand, eigentlich.

Aber hey, lasst mich euch eine kleine Geschichte erzählen. Die hat sich vor zwei Jahren oder so in Hainburg abgespielt, kurz nach schweren Überschwemmungen. Das Team Österreich hat aufgerufen, dort zu helfen, und den Menschen, deren Häuser überschwemmt wurden, bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Beim Mittagessen ist mir dort zum ersten Mal eine Gruppe junger Männer aufgefallen. Nach kurzer Plauderei hat sich herausgestellt, dass das Flüchtlinge sind. Die sind, als sie von dem Aufruf des Team Österreich gehört haben, in den Zug gestiegen, um von Grimmenstein nach Hainburg zu fahren. Als ich sie gefragt hab, warum sie das machen, hat mir einer geantwortet: "Es ist unsere Pflicht, Menschen zu helfen, wenn es ihnen schlechter geht als uns selbst".

Tatsächlich sind das keine Massenmörder, Vergewaltiger, Kinderfresser, Drogendealer oder was auch immer. Das sind Menschen, die um ihr Leben gelaufen sind. Die, mit etwas weniger Glück, gar nicht da wären- weil sie tot wären.

Als die Rote Armee am 2. April 1945 Wiener Neustadt einnahm, traf sie nur auf wenige Zivilisten. Die meisten waren vor den Bombenangriffen der Aliierten geflohen. (1) Die erste Volkszählung nach dem zweiten Weltkrieg ergab, dass knapp ein Viertel aller Menschen aus Wiener Neustadt gestorben oder geflüchtet ist. 70 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges geht es uns so gut wie nie zuvor. Auch wenn das für den einen oder die andere manchmal nicht so scheint.

Nicht allen geht es so gut wie uns. Wir leben in Frieden, haben genug zu essen, ein Dach über dem Kopf. Wir müssen uns nicht fürchten, um unsere Famile und Freunde, um unsere Häuser. der letzte Krieg in Österreich ist drei Generationen her. Das erscheint vielen Ewig, ist tatsächlich aber noch nicht so lange her. Ich wünsch niemanden, dass er flüchten muss. Niemandem. Aber das kann schneller passieren als es einem selbst lieb ist.

Als ich vorher die ersten Bilder von Freiwilligen gesehen hab, die sich kurzerhand auf den Weg in die Arena Nova gemacht haben, um den Aufbau des Quartiers zu unterstützen, kamen mir kurz die Tränen. Die Angebote, unterstützend tätig zu werden oder Sachen zu spenden, steigen kontinuierlich an. Wiener Neustadt hat eine Zivilgesellschaft, und auf die kann man verdammt stolz sein.

#welcome400!

(1) Markus Reisner: Bomben auf Wiener Neustadt - Die Zerstörung eines der wichtigsten Rüstungszentren des Deutschen Reiches

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